Landesschatzmeister Sascha Müller wirft einen sehr persönlichen Blick auf die Geschichte der bayerischen GRÜNEN und ihr Verhältnis zu den vielfältigen Bewegungen der Zivilgesellschaft.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind zu einem großen Teil aus Bewegungen wie Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung heraus entstanden. Kein Wunder, dass daraus auch ein anderes Selbstverständnis erwuchs als bei anderen Parteien, die ihr Hauptaugenmerk vorzugsweise auf die Auswahl von politischem Personal legten. Eine gerade in den Anfangsjahren stark diskutierte Frage war daher, ob die verschiedenen Bewegungen und Bürgerinitiativen das eigentliche »Standbein « der Partei sind und ob die Arbeit in den Parlamenten – ganz gemäß dem basisdemokratischen Verständnis – nur das »Spielbein« darstellt.
Die beste Antwort auf diese Frage gab in meinen Augen die kleine Bundestagsgruppe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus den ostdeutschen Bundesländern, die nach der Niederlage der West-GRÜNEN bei der Bundestagswahl 1990 vier Jahre lang die Fahne der Umwelt- und Bürgerbewegung im Bundestag hochgehalten hatte: Eine Publikation über ihre Arbeit betitelten sie mit einem Foto zweier feixender Kinder, die auf die Frage »Spielbein? Standbein?« eine eindeutige Antwort gaben: »Lass uns losgehen!«
In Bayern gab es diese Diskussionen über das Selbstverständnis unserer Partei zwar auch, insbesondere in den urbanen Milieus. Dennoch waren sie meiner Erinnerung nach bei Weitem nicht so ausgeprägt wie auf der Bundesebene. Das mag daran liegen, dass die jahrzehntelange Vorherrschaft der CSU und das scheinbare Dauerabonnement der GRÜNEN auf Opposition in Bayern theoretische Debatten über die Rolle im Parlamentarismus obsolet machten – zu theoretisch erschien schon die Vorstellung einer möglichen Regierungsbeteiligung in Bayern. (Wie sich die Zeiten doch ändern …)
Protest oder parlamentarische Arbeit?
Ich gehöre ja quasi zur grünen »Sandwichgeneration« – zu jung, um als Mitgründer zu gelten, aber zu alt, um beispielsweise in der GRÜNEN JUGEND sozialisiert worden zu sein. Die parteiinternen Debatten über das Verhältnis zu den »Neuen Sozialen Bewegungen«, wie die Protestbewegungen der 70er- und 80er-Jahre im Politologendeutsch betitelt wurden, waren für mich zugegebenermaßen immer etwas befremdlich. Für mich persönlich war völlig klar: Auf der Straße mag sich der Veränderungswillen der Menschen artikulieren. Herbeigeführt werden müssen diese Veränderungen – von einzelnen Ausnahmen durch direkte Demokratie abgesehen – dann aber im Parlament und natürlich in letzter Konsequenz auch in Regierungsverantwortung. Beides gehört also zusammen, beides ist wichtig, beides bedingt sich.
Die meisten von uns werden sich an ihre erste Teilnahme an einer Demonstration gut erinnern. Bei mir war es mit etwa 15 Jahren eine Demo gegen einen bei uns im Landkreis stattfindenden NPD-Parteitag, überwiegend organisiert von gewerkschaftlicher Seite und mobilisiert aus der ganzen Region. Teilnehmende aus der näheren Umgebung waren leider unterrepräsentiert. Umso mehr habe ich mich im letzten Jahr über die großen Demos gegen Menschenfeindlichkeit wie »Ausgehetzt« gefreut – mit uns und unserem Banner »Herz, nicht Hetze« vorne dran. Zwar mag es gerade in den sogenannten sozialen Medien laute Stimmen gegen die Menschenwürde und unsere Demokratie geben. Es sind aber eben nicht immer die Lauten stark. Und wie sich auch auf der Straße gezeigt
hat: Wir sind mehr!
Zu den GRÜNEN gekommen bin ich aber eigentlich über die Anti-Atom-Bewegung. Einzelne – kleinere – Demonstrationen vor Ort habe ich selbst mitorganisiert. Und natürlich habe ich oft – noch als Schüler – an den großen Demonstrationen am Bauzaun der geplanten Wackersdorfer Wiederaufbereitungsanlage teilgenommen. Dass der Bau 1989 endgültig eingestellt wurde, war der größte Erfolg der Anti-AKW-Bewegung in Bayern. Wenn ich heute die Fridays-for-Future-Demos der Schülerinnen und Schüler betrachte, habe ich dennoch ein sehr zwiespältiges Gefühl. Zum einen erkenne ich sehr viel Engagement wieder, das ich aus meiner eigenen Jugend kenne. Zum anderen bin ich auch etwas beschämt. Denn diese Demonstrationen zeigen, dass meine Generation es nicht geschafft hat, trotz allem Wissen über die Konsequenzen unserer Art zu wirtschaften, der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen nachhaltig Einhalt zu gebieten.
Stimme der Umweltbewegung
Dass sich in Bayern gerade eine neue starke Umweltbewegung gebildet hat, die etwa das Artenschutzvolksbegehren zu einem so großen Erfolg geführt hat, macht dann natürlich wieder Hoffnung. Unser Anspruch ist es, die Stimme dieser Bewegung im Bayerischen Landtag zu sein und auch die außerparlamentarische Bewegung mitzuprägen. Schon einmal gab es den Ansatz einer solchen Umweltbewegung und den Versuch, Verbesserungen über die Volksgesetzgebung zu erreichen: 1991 mit dem Volksbegehren zum »Besseren Müllkonzept«. Heutige Selbstverständlichkeiten wie getrennte Rücknahmesysteme und die Wiederverwendung von Rohstoffen im Sinne einer Kreislaufwirtschaft waren vorher nicht und schon gar nicht flächendeckend verwirklicht. Am Ende ging der Volksentscheid zwar knapp verloren, der dagegen gesetzte Gesetzentwurf der CSU-Landtagsmehrheit hatte sich jedoch – auch hier eine gewisse Parallele zur Gegenwart – bereits so deutlich auf uns zubewegt, dass nur Verwaltungsexperten die Unterschiede noch erklären konnten.
Breite gesellschaftliche Bewegungen für eine im weitesten Sinne progressive Politik gab es jedoch nicht nur im Umweltbereich. Ich erinnere mich dabei zuerst an den Widerstand gegen die Volkszählung Mitte der 80er-Jahre, bei der alle Haushalte gegenüber freiwilligen Helfer*innen – diese oft aus den gleichen Gemeinden kommend – zahlreiche Fragen nach Lebensverhältnissen und Einkommen beantworten mussten. Die Auswertungen erfolgten zwar anonymisiert, dennoch ließen sich gerade in kleinen Gemeinden manche Antworten sehr leicht wieder zuordnen. Aus datenschutzrechtlicher Sicht heute undenkbar! Auch hier gibt es Parallelen zu Bewegungen wie »Save your Internet« und vor allem den großen Demonstrationen gegen die zahlreichen Zugriffsmöglichkeiten auf private Daten im neuen bayerischen Polizeiaufgabengesetz. Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stehen so wieder oben auf der Agenda. Auch hier standen wir an der Spitze der »NoPAG«-Bewegung. Zwar konnten wir die Verabschiedung des Gesetzes nicht verhindern, es bleibt aber die berechtigte Hoffnung, dass wir gerichtlich noch entscheidende Korrekturen erreichen werden.
Feministisch von Anfang an
Die Geschichte der GRÜNEN lässt sich auch in Bayern nicht von der Frauenbewegung trennen. Gerade in Bayern mit seiner erzkonservativen Regierungspartei gab es heftige Auseinandersetzungen
um den Paragrafen 218. Und die Debatte um die Streichung oder Reform des Paragrafen 218a hat gezeigt, wie weit patriarchale Denkmuster bis heute verbreitet sind. Vor allem aber sind die Aufstiegschancen in der Wirtschaft immer noch nicht gleichmäßig verteilt. Und der Frauenanteil im Bundestag oder Landtag ist zuletzt sogar gefallen. Dass wir das Thema Gerechtigkeit aus feministischer Sicht im letzten Jahr zum Schwerpunkt gemacht haben, mag manchen mutig erschienen sein. Ich denke, es war ein wichtiger Baustein für unseren Wahlerfolg. Vor allem aber war es gesellschaftlich absolut notwendig.
Völlig konfliktfrei war das Verhältnis zwischen der Partei und den vielfältigen sozialen Bewegungen natürlich nicht. Als 1998 die erste rot-grüne Bundesregierung ins Amt kam, blickte ich in meinem Kreisverband in verdutzte Gesichter, als ich – bei aller Freude – davor warnte, dass jetzt wir »die da oben« seien und es nicht lange dauern würde, ehe sich Demonstrationen gegen uns richten würden. Nicht gedacht hätte aber auch ich, dass es schon nach so kurzer Zeit der Fall sein würde: nämlich durch die Beteiligung Deutschlands (und damit der GRÜNEN in der Bundesregierung) am NATO-Einsatz im Kosovo-Konflikt. Das Verhältnis zur Friedensbewegung war nun nachhaltig gestört. Entspannt hat es sich einige Jahre später nur etwas durch den späteren Widerstand der deutschen Regierung und speziell von Joschka Fischer gegen den Irak-Krieg. Ein Schild »No War, Mister Bush« auf einer Friedensdemo in München, gemalt von einem Praktikanten in der Landesgeschäftsstelle, schaffte es bis in die New York Times.
Was wird nun passieren, wenn wir – wovon ich überzeugt bin – schon in naher Zukunft erneut an einer Bundesregierung und erstmals an einer bayerischen Landesregierung beteiligt sein werden? Wird es Konflikte geben, weil manchen die Veränderungen nicht weit genug gehen? Oder finden wir zu neuen Arbeitsteilungen mit den außerparlamentarischen Bewegungen? Wir werden es herausfinden. Auch hier gilt: Spielbein? Standbein? Lass uns losgehen!
Sascha Müller ist seit 1988 Mitglied bei den bayerischen GRÜNEN und seit 2011 Landesschatzmeister.
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