Rechtspolitik

Zugang zum Recht für alle!

Beschluss vom Landesausschuss am 12.12.2020

Auch in Bayern stehen viele Menschen vor erheblichen finanziellen und sozialen Schwierigkeiten und fühlen sich oftmals vom System „abgehängt“. Einer der Gründe dafür sind die immer wieder zu hohen Hürden vor dem Zugang zum Rechtssystem.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stehen für eine Gesellschaft, die allen Menschen gute Chancen ermöglicht. Darum wollen wir, dass der Zugang zum Recht allen offen steht. Wir setzen uns deshalb für die folgenden Maßnahmen ein, die ein Teil der Lösung dieser Schwierigkeiten sein können:

1. Angemessene Rechtsanwaltsvergütung

Wir fordern eine Anhebung der Rechtsanwaltsvergütung und strukturelle Änderungen im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG). Insbesondere in Familienrechtsangelegenheiten wird das RVG nicht der Lebenswirklichkeit gerecht. Die entstandenen Kosten werden oft nicht durch das RVG gedeckt. Dies wirkt sich unmittelbar auf den Zugang zum Recht aus. Verfahren, die nicht kostendeckend sind, werden von Rechtsanwält*innen nicht immer übernommen. Insbesondere in Großstädten wird in Kanzleien immer mehr auf Honorarvereinbarungen zurückgegriffen, die sich längst nicht alle Menschen leisten können.

Die Rechtsanwältin auf dem Land ist für den Zugang zum Recht das, was die Hausärztin im Gesundheitswesen ist. Um die flächendeckende Versorgung mit Rechtsanwält*innen sicherzustellen, muss die Rechtsanwaltsvergütung im Rahmen des RVG deutlich erhöht werden. Momentan befindet sich ein Gesetz zur Änderung des Justizkosten- und des Rechtsanwaltsvergütungsrechts (Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 – KostRÄG 2021) im Gesetzgebungsverfahren. Allerdings bleibt dies weit hinter den Forderungen der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zurück. Insbesondere wird bei Beibehaltung dieses Gesetzesentwurfs immer noch nicht vollständig erreicht, dass die gestiegenen Kosten für den Kanzleibetrieb ausgeglichen werden. Des Weiteren sollen die Anpassungszeiträume kürzer werden. Der Deutsche Anwaltverein hat schon lange einen Forderungskatalog von gewünschten strukturellen Änderungen und der Vorstellung der Anhebung der Gebührentabelle zusammengestellt. Diese Forderungen unterstützen wir.

2. Rechtsberatungsstellen an allen Amtsgerichten in Bayern

Wir fordern die Einrichtung von Rechtsberatungsstellen für Menschen mit geringem Einkommen an allen bayerischen Amtsgerichten. Gleichzeitig muss dieses Angebot durch eine Informationskampagne allen Betroffenen zugänglich gemacht werden.

Viele Menschen fühlen sich, auch in Bayern, „abgehängt“ und nicht als Teil der Gesellschaft. Einer der Gründe ist der fehlende flächendeckende Zugang zu unserem Rechtssystem. Armut ist auch in Bayern vor allem ein weibliches Problem. Die zweitgrößte Gruppe sind Alleinerziehende. Aktuell sind fast 43 % der Alleinerziehenden in der Bundesrepublik von Armut bedroht. Dabei sind 9 von 10 Alleinerziehenden Frauen. Gerade sie haben oft nur ein geringes Einkommen zur Verfügung und sind daher oft Bezieherinnen von Sozialleistungen. Sei es ein Miet- oder Heizkostenzuschuss, Zuschüsse für Mittagessen in der KiTa oder für Musikunterricht. Nicht immer werden die berechtigten Sozialleistungen reibungslos und in der richtigen Höhe ausbezahlt. Hinzu kommen Probleme mit Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen. Care-Arbeit wird nach wie vor nicht honoriert mit der Folge, dass auch vor allem Frauen, die lebenslang wegen der Pflege von Angehörigen nur in Teilzeit berufstätig waren, von einer geringen Rente leben müssen. Gerade dann entsteht aber ein erhöhter Beratungsbedarf rund um die Themen Pflege, Vorsorge und Betreuung.

Geld für eine Rechtsschutzversicherung, die die Kosten einer anwaltlichen Beratung oder Vertretung tragen würde, fehlt. Auch das Instrument der Beratungshilfe führt in der Praxis nicht dazu, dass diese Menschen auch qualifizierten Rechtsrat erhalten. Rechtsmittel gegen fehlerhafte Bescheide, Kündigungen oder Sonstiges sind immer fristgebunden. Gleichzeitig ist es schwierig, einen passenden Rechtsbeistand vor Ort zu finden, die/der wirtschaftlich nicht rentable Beratungshilfemandate auch annehmen kann und will.

Hier sind wir gefordert, diese Menschen zur ermächtigen, sich um die Angelegenheiten des täglichen Lebens zu kümmern und ihnen und ihren Familien die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Vereinzelt gibt es in Bayern in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Anwaltverein e.V. bzw. den örtlichen Anwaltvereinen bereits feste wöchentliche Beratungssprechstunden in den Amtsgerichten Augsburg, Dachau, Ebersberg, München und Wolfratshausen. Die Ausweitung dieses Angebots ist unbedingt voranzutreiben, um zu gewährleisten, dass in ganz Bayern, in der Stadt und auf dem Land, alle Bürger*innen unabhängig von ihrem Wohnort, Bildungsgrad und Einkommen Zugang zu unserem Rechtssystem erhalten. Gleichwertige Lebensverhältnisse gehören verstärkt in den Fokus unserer politischen Arbeit. Sie herzustellen fördert das Vertrauen in einen gerechten Rechtsstaat und die Demokratie.

Ganz konkret fordern wir:

  • Die Einrichtung von Rechtsberatungsstellen mit juristisch ausgebildeten Beratungspersonen an allen Bayerischen Amtsgerichten
  • Eine groß angelegte Informationskampagne in Ämtern, Beratungsstellen, KiTas, Schulen, (Sport-)Vereinen, öffentlichen Plätzen, sozialen Medien
  • Die Vernetzung mit den Anwaltvereinen und bereits bestehenden Beratungsstellen wie z.B. Pflegestützpunkte, Schuldnerberatungsstellen der caritativen Träger, Asylsozialberatungsstellen, Frauenhäuser

3. Bayerisches Schlichtungsgesetz wieder erweitern

Um die Amtsgerichte zu entlasten, fordern wir zudem die Wiedereinführung des bayerischen Schlichtungsgesetzes in seiner ursprünglichen Form. Künftig soll dieses wieder für Rechtsstreitigkeiten mit geringem Streitwert verpflichtend angewendet werden müssen. Dafür kann der Streitwert von bis zu 750,00 € angesetzt werden. Nach dieser früheren Rechtslage war für solche Streitigkeiten zwingend ein Schlichtungsverfahren vor einer anerkannten Schlichtungs- oder Gütestelle durchzuführen, bevor geklagt werden kann. Gerade in diesem geringen Streitwertbereich können Probleme im Vorfeld zwischen den Parteien einvernehmlich gelöst werden und müssten nicht unbedingt vor Gericht landen. Durch ein solches wieder erweitertes Schlichtungsgesetz werden die Amtsgerichte entlastet und dadurch wichtige Kapazitäten frei.

4. Jugendämter personell und finanziell aufstocken und Unterhaltsvorschussabteilungen ausbauen

Wir fordern die personelle Aufstockung der Jugendämter: Die Erziehungsberatungsstellen der Jugendämter sind personell nicht gut aufgestellt mit der Folge, dass viele Verfahren zur Regelung des Umgangsrechts vor den Amtsgerichten verhandelt werden. Für alle Beteiligten ist dies in der Regel nicht der optimale Weg. Gerade für Menschen mit geringem Einkommen, denn der Umgang kann zwischen den Parteien einvernehmlich mit dem Jugendamt kostenfrei vereinbart werden. Zudem sind die Mitarbeiter*innen der Jugendämter hierfür besser ausgebildet als Richter*innen und Rechtsanwält*innen. Es kommt hinzu, dass aufgrund der schlechten personellen Ausstattung der Jugendämter das Kindeswohl erst viel zu spät in den Fokus der Arbeit rücken kann. Die vielen guten Hilfsangebote der Jugendämter zur Unterstützung von Familien und Alleinerziehenden sind meist nur Theorien, weil das Personal für die Umsetzung fehlt.

Wir fordern die personelle Aufstockung der Unterhaltsvorschussabteilungen der Jugendämter: Seit der Novellierung der gesetzlichen Regelung zum Unterhaltsvorschuss im Jahr 2017 hat sich die Zahl der Kinder, die Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erhalten, verdoppelt. Im Jahr 2019 wurden bundesweit 2,18 Milliarden Euro ausbezahlt. Nur 17 % hiervon wurde von den Unterhaltspflichtigen wieder beigetrieben mit der Folge, dass im Staatshaushalt eine Belastung von 1,8 Milliarden Euro verbleibt. Dieses Geld wäre jedoch dringend notwendig, um die oben beschriebene bessere Ausstattung der Jugendämter finanzieren zu können.

5. Mobile Rechtsberatung vor allem in Flächenlandkreisen unterstützen

Insbesondere in ostdeutschen Bundesländern, wo durch die Zusammenlegung von Landkreisen die Wege zur Kreisstadt länger geworden sind, gibt es bereits viele sehr gute Beispiele dafür, wie es die Anwaltschaft aus eigenem Antrieb geschafft hat, zum einen besser Mandate zu generieren und zum anderen unkompliziert sicherzustellen, dass alle Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Zugang zum Rechtssystem haben. Bereits bestehende Modelle sind entweder eine „Bauwagen-Sozietät“, bei der mehrere Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zusammen einen Bauwagen in ein richtiges Büro umgewandelt haben und nach Rücksprache mit den Bürgermeister*innen der einzelnen Städte eines Landkreises reihum an festen Tagen Rechtsberatung vor der Haustüre anbieten. Alternativ dazu gibt es das Modell auch in Räumlichkeiten der Rathäuser oder sonstigen öffentlichen Einrichtungen. Dies ist insbesondere für Menschen, die aus finanziellen oder Altersgründen nicht (mehr) mobil sind, eine gute Möglichkeit, Zugang zu anwaltlicher Vertretung zu bekommen. Um dieses Modell voranzutreiben, sollte es finanziell vom Justizministerium unterstützt werden.

6. Gruppenklage

Elementar für einen besseren Zugang zum Recht in sehr vielen Fällen ist die Einführung kollektiver Klagemöglichkeiten (Musterfeststellungsklage, Sammelklageverfahren oder auch: Gruppenklage). Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat dazu in den Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht (Bundestagsdrucksache-Nummer 19/243). Derzeit gibt es das Problem, dass die von rechtswidrigen Handlungen Betroffenen nur in den seltensten Fällen auf Instrumente kollektiven Rechtsschutzes zurückgreifen können, um ihre Ansprüche gemeinsam durchzusetzen. Sehr deutlich wurde dies bei den Klagen gegen Autohersteller wegen des Abgasskandals. Eine einfache und effektive Gruppenklage-Möglichkeit kann in den Fällen, in denen sehr viele Personen gemeinsam Ansprüche haben, den Zugang zum Recht erleichtern und somit auch einen Beitrag zur Entlastung der Gerichte leisten.

7. Unbefriedigter Rechtsbedarf („unmet legal needs“): Gibt es zu hohe Hürden?

Die Bundesregierung hat nach langem Drängen – u.a. durch die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – eine Studie in Auftrag gegeben, um zu klären, welche Ursachen es hat, dass die Zahl der Gerichtsverfahren in manchen Bereichen – insbesondere im Zivilrecht – seit Jahren zurückgeht. Es ist zu befürchten, dass dieser Rückgang auch daran liegt, dass viele Personen auf an sich berechtigte Ansprüche verzichten, weil für sie die Hürden für ihre Rechtsdurchsetzung zu hoch sind. Darum ist es notwendig, dass künftig kontinuierlich die rechtssoziologische und rechtsempirische Forschung zu diesen Fragen etabliert und ausgebaut wird. Ergänzend zu den Aufgaben der Bundesebene sollte an dieser Stelle auch das Bayerische Staatsministerium der Justiz Initiativen ergreifen und die entsprechende Forschung unterstützen.

8. Sozialrecht: Anwält*innen und Verbände besser ausstatten – Revisionen erleichtern

Für Menschen mit geringen finanziellen Möglichkeiten ist gerade das Sozialrecht und die Sozialgerichtsbarkeit oftmals die zentrale Stelle, um ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Hier sollte die Deckelung von Sozialgerichtsgebühren und damit auch der Anwaltskosten dazu führen, dass der Zugang zu den Gerichten erleichtert wird. Tatsächlich wird nun aber von vielen Gerichten und Expert*innen vor diesem Hintergrund beklagt, dass die Qualität der anwaltlichen Vertretung oftmals eher gering ist. Es ist auch für die Anwaltskanzleien nicht zu leisten, Kenntnisse zu erwerben in einem Bereich, in dem die Kosten nicht gedeckt werden können und schon gar nicht an das Erzielen von Gewinnen zu denken ist. Somit könnte durch eine Erhöhung der möglichen Einnahmen für die Rechtsanwält*innen im Sozialrecht es etlichen Kanzleien erleichtert werden, in diesem Feld tätig zu werden und zu bleiben. Diese Schwierigkeit haben freilich nicht alle Beteiligten, es ist aber ein immer wieder berichtetes Phänomen, dass die geringen Kosten zu Qualitätseinbußen führen können. Dies führt auch dazu, dass etwa Revisionen an formalen Hürden scheitern, obwohl die aufgeworfenen Rechtsfragen durchaus von grundsätzlicher Bedeutung sind. Darum wäre es sinnvoll, wenn durch entsprechende Änderungen der Bundesgesetze ermöglicht würde, dass in diesem Bereich die Revisionsgerichte mehr Spielraum bekommen, um formelle Defizite zu überwinden. Außerdem ist es wichtig, dass die Verbände in diesem Bereich gestärkt werden und es ihnen erleichtert wird, ihre Beratungs- und Vertretungsleistungen noch mehr Personen in noch besserer Qualität und mit einer noch größeren Intensität anzubieten. Dies kann etwa durch (erhöhte) staatliche Finanzzuschüsse erreicht werden.

Diese vorgeschlagenen Maßnahmen wären ein Schritt, um allen Menschen einen besseren Zugang zum Recht zu ermöglichen. Dies kann somit ein Teil einer notwendigen umfassenden Stärkung der Sozialpolitik sein.

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