Frieden

Völkerrechtswidrige Militäroffensive der Türkei verurteilen, umgehend Konsequenzen ziehen

Beschluss auf der Landesdelegiertenkonferenz 2019 in Lindau

Am 9. Oktober 2019 marschierten türkische Streitkräfte im Nordwesten Syriens ein. Die türkische Invasion ist eine Verletzung des Völkerrechts und eine unverantwortliche militärische Gewalteskalation. Bereits jetzt hat der Einmarsch die humanitäre Katastrophe im Land dramatisch ausgeweitet. Über 300.000 Menschen sind auf der Flucht, nach Schätzungen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

Der Einmarsch in Nordsyrien ist ein gezielter Angriff auf die kurdische Bevölkerung, eine bewusste Eskalation des Konflikts mit den Kurdinnen und Kurden im eigenen Land. Bewusst begräbt Präsident Erdoğan die letzte Hoffnung, den kurdischen Friedensprozess in der Türkei auf absehbare Zeit wiederzubeleben.

Die Ankündigung, mittelfristig Millionen syrischer Geflüchteter in das mehrheitlich kurdische Nordsyrien umzusiedeln, ist der aggressive Versuch, die dortige Bevölkerungsstruktur nach zynisch-nationalistischem Kalkül umzuschichten. Die Folge wäre eine weitere humanitäre Tragödie und gefährliche neue Konflikte, von denen die gesamte Bevölkerung, insbesondere aber die Kurdinnen und Kurden sowie die ethnischen und religiösen Minderheiten in der Region betroffen wären.

Mit seinem Truppenabzug hat US-Präsident Donald Trump den kurdischen Kräften abrupt die Unterstützung im Kampf gegen den IS entzogen. Eine ausreichende Überwachung der in Nordsyrien inhaftierten IS-Kämpfer dürfte unter aktuellen Umständen nicht garantiert sein. Mit seiner unverantwortlichen Politik hat Präsident Trump die Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien unmittelbar dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad in die Arme getrieben.

Bereits Anfang 2018 hatte die Türkei mit einer Militäroffensive in der Region von Afrin völkerrechtswidrig gehandelt. Deutliche Worte fand die Bundesregierung auch damals nicht; bis heute bleiben die unzähligen Menschenrechtsverbrechen in den besetzten Gebieten weitestgehend unkommentiert. Auch innerhalb der NATO blieb deutliche Kritik weitestgehend aus. Für Präsident Erdoğan muss das wie ein „weiter so“ geklungen haben. Das geschieht nun.

Es ist nicht hinnehmbar, wenn NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und auch Außenminister Heiko Maas den erneuten völkerrechtwidrigen Einmarsch der Türkei nun mit dem Verweis auf angebliche türkische Sicherheitsinteressen zumindest relativieren. Wer suggeriert, der völkerrechtswidrige Einmarsch türkischer Streitkräfte in Nordsyrien habe mit vermeintlichen Sicherheitsinteressen der Türkei zu tun, stärkt Präsident Erdogan nur in seinem unverfrorenen Vorhaben, einen eindeutigen Völkerrechtsbruch mit Artikel 51 der UN-Charta zu rechtfertigen. Umso entscheidender ist es nun, zu verdeutlichen, dass die Türkei für ihre Invasion keinen Beistand der NATO erwarten kann.

Derweil hat die türkische Regierung in Afrin eindeutig gezeigt, wie sie sich die Zukunft für den gesamten Norden Syriens vorstellt. Die gesamte, vorwiegend kurdische Bevölkerung wird durch systematische Menschenrechtsverbrechen gezielt entmündigt und drangsaliert. Tagtäglich sind die Menschen in Afrin der Willkür und Gewalt dubioser Milizen ausgeliefert, die nur unter dem Schutz des türkischen Militärs so agieren können.

Mit dem Flüchtlingsdeal von 2016 hat sich die Europäische Union durch Erdoğan erpressbar gemacht. Es ist richtig, die Türkei als Aufnahmeland mit der höchsten Zahl syrischer Geflüchteter bei deren Versorgung und Unterbringung finanziell umfassend zu unterstützen. Die Grundidee des Flüchtlingspaktes aber, im Gegenzug jeden Geflüchteten, der die griechischen Inseln erreicht, in die Türkei zurückzuschicken, ist asylrechtswidrig.

Seit Anfang 2018 wurden zudem Hermesbürgschaften für die Türkei im Wert von rund 2,6 Milliarden Euro gewährt. Und allein seit Beginn des Einmarsches in Afrin wurden deutsche Kriegswaffen im Wert von mindestens 427 Millionen Euro an die Türkei geliefert. Die Ankündigung der Bundesregierung, keine Genehmigungen für alle Rüstungsgüter, die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, zu erteilen, ist in diesem Zusammenhang völlig ungenügend, da sie sich nur auf einen Teil der Rüstungsexporte bezieht und bereits genehmigte Lieferungen fortlaufen sollen.

Vor diesem Hintergrund muss gerade auch die Bayerische Staatsregierung ihren Beitrag zur Beilegung des militärischen Einsatzes der Türkei in Syrien leisten. Bayern aber wird seiner besonderen politischen Verantwortung als größte Waffenschmiede Deutschlands bisher in keiner Weise gerecht. Ganz im Gegenteil: Keine andere Landesregierung agiert so massiv gegen restriktive Rüstungsexportregelungen. Das kritiklose und offene Werben für Waffenverkäufe an Kriegs- und Krisenstaaten droht, in völlig unverantwortlicher Weise zur Verschärfung von Krisen beizutragen, wie sich nun erneut zeigt. Statt abenteuerlicher außenpolitischer Alleingänge muss die Bayerische Staatsregierung dazu beitragen, aus Deutschland einen Vorreiter ziviler Krisenprävention zu machen.

Der Normalisierungskurs der Bundesregierung gegenüber Ankara ist gescheitert und hat Präsident Erdogan in seinem autokratischen, anti-demokratischen Kurs nur bestärkt. Die Bundesregierung hat viel zu lange kaum oder viel zu leise Kritik an der zunehmend autokratischen und unberechenbaren Innen- und Außenpolitik der türkischen Regierung geübt. Dieses laute Schweigen, auch zu Afrin im letzten Jahr, es hallt nach und rächt sich nun erneut.

Wir GRÜNE stehen fest an der Seite aller Demokratinnen und Demokraten in der Türkei. Von Bundes- und Landesregierung erwarten wir dasselbe – und deshalb einen grundlegenden Kurswechsel im Umgang mit der türkischen Regierung.

 

Wir GRÜNE fordern die Bundesregierung auf:

  • sich auf allen Ebenen für einen sofortigen Stopp des türkischen Angriffs in Nordsyrien einzusetzen und den Einmarsch der Türkei in Syrien als erneut völkerrechtswidrig zu verurteilen;
  • auf einen umgehenden Waffenstillstand in der Region hinzuarbeiten;
  • ausnahmslos alle deutschen Rüstungsexporte in die Türkei umgehend zu stoppen und bereits erteilte Genehmigungen zu widerrufen;
  • auch Pläne zur Beteiligung deutscher Unternehmen an Rüstungskonsortien zu unterbinden und die Gesetzeslücke, die solche Vorhaben ermöglicht, dringend zu schließen;
  • die völkerrechtswidrige Intervention der Türkei auch innerhalb der NATO, insbesondere im Nordatlantikrat, auf die Tagesordnung zu setzen und zu verdeutlichen, dass die Türkei für ihre völkerrechtswidrige Invasion keinen Beistand der NATO erwarten kann;
  • sich zugleich für ein Ende der Angriffe auf zivile Einrichtungen in der Türkei einzusetzen;
  • sicherzustellen, dass die durch deutsche Aufklärungsflüge im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ über Syrien und dem Irak gewonnenen Aufklärungsdaten nicht länger mit der türkischen Regierung geteilt werden, die Verlängerung des Engagements der Bundeswehr bei der Operation „Inherent Resolve“ zurückzunehmen und die Tornados aus Jordanien abzuziehen;
  • keine neuen Hermesbürgschaften zur Absicherung wirtschaftlicher Aktivitäten in der Türkei mehr zu übernehmen und alle noch offenen Anträge negativ zu bescheiden;
  • den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal von 2016 zu beenden, die europäische Unterstützung zu unmittelbaren Gunsten der über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei auf anderem Wege fortzuführen und Kontingente zur Entlastung der dortigen Strukturen einzurichten;
  • sich für eine diplomatische Offensive gegenüber der Türkei sowie Vertreterinnen und Vertretern der kurdischen Bevölkerung in der Region einzusetzen, um maximalen Druck für eine politische Lösung aufzubauen – denn weder der kurdische Konflikt noch der schreckliche Krieg in Syrien werden militärisch, sondern nur unter Einbeziehung der betroffenen Staaten und Interessengruppen sowie unter Wahrung des Völkerrechts gelöst werden können;
  • mehr denn je eine klare Position für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Türkei und in der Region einzunehmen sowie alles politische Handeln konsequent auf die Unterstützung der vielen demokratischen Kräfte in der Türkei auszurichten;
  • dafür Sorge zu tragen, dass keine Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion eröffnet werden, solange die Türkei keine Kehrtwende zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht;
  • sicherzustellen, dass europäische Heranführungshilfen ausschließlich an gesellschaftliche, prodemokratische Organisationen ausgezahlt werden;
  • sich vehement dafür einzusetzen, dass die EU-Beitrittsgespräche, die de facto gerade auf Eis liegen, nicht vollständig abgebrochen werden, da dieser Schritt das falsche Signal an die vielen demokratischen Kräfte in der Türkei senden und die europäische Perspektive einer Türkei, die nach dem Ende der Ära Erdoğan zu Demokratie und Menschenrechten zurückfindet, endgültig beenden würde.

 

Mit Blick auf die besondere Rolle des Bundeslandes Bayern im Rüstungsbereich fordern wir GRÜNE die Bayerische Staatsregierung gesondert auf:

  • auf Bundesebene darauf hinzuwirken, dass die bestehenden Rüstungsexportrichtlinien lückenlos umgesetzt werden und folglich keine Ausfuhren von Rüstungs- oder Dual-Use-Gütern in Kriegs- und Krisenländer sowie in Staaten mit problematischer Menschenrechtslage mehr genehmigt werden;
  • alle Versuche, eine Sonderrolle in der deutschen Außenpolitik einzunehmen, zu beenden;
  • deutlich mehr Friedensforschung statt Militärforschung zu ermöglichen und die gesellschaftliche Diskussion in Bayern über ethische Bedenken bei der Vergabe öffentlicher Gelder für Militärforschung zu befördern;
  • zu diesem Zweck die Annahme von Drittmittelprojekten für Militärforschung an Hochschulen und Universitäten transparenter zu gestaltet;
  • bayerische Universitäten und Hochschulen zu unterstützen, damit diese sich in freiwilligen Selbstverpflichtungen, sogenannten Zivilklauseln, zum Verzicht auf rüstungsnahe Forschung bekennen;
  • zur Beratung und unabhängigen Bewertung sind Kommissionen nach dem Vorbild der Ethikkommissionen in der Medizinforschung zu schaffen.

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