Pflege und Gesundheit

Eine Gesundheitsversorgung, auf die man sich überall verlassen kann, braucht einen Systemwechsel

Beschluss auf der Landesausschuss-Sitzung am 15.02.2020

In Deutschland sind alle Bürger*innen verpflichtet, Mitglied in einer Krankenkasse zu sein. Der Pflicht sich zu versichern, steht jedoch keine verlässlich geregelte, einklagbare Gegenleistung gegenüber und der Träger dieser Pflicht ist als Ansprechpartner weder sichtbar noch erreichbar. Um die Gesundheitsversorgung in der Fläche – insbesondere auf dem Land – verlässlich zu gestalten, fordern wir einen Systemwechsel im Gesundheitswesen.

Die medizinische Versorgung auf dem Land ist auf dem Rückzug. Das gilt für die ambulante und für die stationäre Versorgung. Das hat zwei Gründe: Der eine Grund liegt in der demografischen Auseinanderentwicklung der Räume in Deutschland. Während die Ballungsräume stark wachsen und sich verjüngen, geht die Bevölkerung auf dem Land überdurchschnittlich stark zurück, bei steigendem Altersdurchschnitt. Dadurch nimmt vielerorts auch das Angebot an öffentlich bereit gestellter Mobilität ab. Entfernungen werden größer und sind ohne eigenes Auto schwerer zu überwinden.

Diese demografische Entwicklung trifft auf eine Finanzierung im Gesundheitswesen, die heute vor allem von der Menge der Leistungen abhängt: Das gilt für die Apotheken, deren Einnahmen ganz überwiegend von der Menge der abgegebenen Medikamente abhängen. Das gilt auch für Krankenhäuser, die darauf angewiesen sind, viele Fallpauschalen mit möglichst hohem Schweregrad abzurechnen und so ein im Voraus mit den Kassen vereinbartes Budget möglichst genau zu treffen. Technisch aufwändige Komplexmedizin wird besser vergütet als die Grund- und Notfallversorgung. Haus- und Fachärzte profitieren überdies davon, möglichst viele Privatpatient*innen in ihrem Patient*innenstamm zu halten. Allerdings finden sich Privatpatient*innen vor allem in den Ballungsräumen. Auf dem Land ist der ältere, das heißt behandlungsintensive, gesetzlich Versicherte der Normalpatient.

Wo das Krankenhaus schließt oder sich als privatisiertes Haus auf gut vergütete Medizin beschränkt und aus der Grundversorgung zurück zieht, hat das auch Folgen für die weitere Versorgung: Die Abdeckung des notärztlichen Dienstes wird schwieriger. Vor- und Nachsorgehebammen, die vorher Teilzeit in der Geburtsklinik gearbeitet haben, verschwinden aus der Region. Die Rekrutierung von Praxisnachfolger*innen aus den Krankenhausärzt*innen ist nicht mehr möglich. Wenn die Hausarztpraxen schließen, folgen die Apotheken. Vor allem aber: Die Fahrtzeiten zur Akut- und Notfallversorgung werden immer länger, die Kosten und die Belastung der Patient*innen durch den Transport steigen.

Die fallzahlunabhängige Vorhaltung von Leistungen, d. h. die Tatsache, dass eine Einrichtung einfach vorhanden ist und geöffnet hat, etwa eine Notfallambulanz im Krankenhaus mit der erforderlichen Personalausstattung und Technik, wird nicht vergütet. Ebenso wenig das, was medizinisch überall sinnvoll sein kann, nämlich Gespräche ohne Verordnung. Auch die Überwindung von Entfernungen wird nicht ausreichend finanziert. Hausbesuche sind schlecht vergütet und werden daher immer weniger angeboten. Über die räumliche Lage anderer Angebote, etwa die Verteilung des Bereitschaftsdienstes der Apotheken oder Ort von zentralisierten Bereitschaftspraxen entscheiden die Selbstverwaltungen, also die Apothekerkammern oder die Kassenärztliche Vereinigung. Gesetzlich definiert ist sie nicht.

Die aktuelle Gesundheitspolitik im Bund und in Bayern scheitert daran, den Pflichtversicherten auf dem Land ein verlässliches Grundangebot zu gewährleisten. Wenn Hausärzt*innen keine Nachfolger*innen finden, wenn die Geburtsklinik schließt, bleiben die Patient*innen mit ihren Sorgen alleine. Die nunmehr benannten bundesweit 120 Krankenhäuser, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss als bedarfsnotwendige ländliche Krankenhäuser identifiziert wurden, erhalten zukünftig aus dem Topf der Krankenkassen einen Sicherstellungszuschlag von 400.000 Euro pro Jahr. Angesichts der Millionendefizite in den meisten Kliniken in Bayern ist klar, dass solche Pauschalbeträge die Standorte nicht langfristig sichern werden. Die bayerische Staatsregierung hat einen sogenannten Rettungsschirm für kleine Krankenhäuser angekündigt: Dort sollen begrenzt auf fünf Jahre bis zu 85 Prozent des Defizits von Kliniken aus Steuermitteln übernommen werden (maximal jedoch eine Million Euro, bei Kooperationen zwei Millionen Euro), unter der Voraussetzung, dass die Krankenhäuser in dieser Zeit ein Konzept entwickeln, wie sie in Zukunft wirtschaftlich werden. Beide Programme stellen jedoch nicht die Systematik der Leistungsfinanzierung durch Fallpauschalen in Frage und auch nicht die unzureichende Investitionsfinanzierung durch den Freistaat, und damit die Ursachen dafür, dass seit Jahren knapp die Hälfte aller bayerischen Krankenhäuser Defizite erwirtschaftet. Gleichzeitig steht mit der Reform der Vergütung der Notfallambulanzen ein weiterer unsystematischer Abbau in der stationären Akutversorgung bevor, vor allem auf dem Land. Denn kleine Häuser werden die nötigen Investitionen in Personal und Ausstattung nicht leisten und auch mit den (zum Glück) wenigen Notfällen in ihrem Einzugsbereich nicht refinanzieren können. Auch die Zahl der Krankenhäuser, die Schlaganfallkomplexbehandlungen abrechnen können, wird drastisch sinken, obwohl die dafür vorgeschriebene Ausstattung nur für eine Minderheit der Schlaganfallpatient*innen erforderlich ist, um sie rechtzeitig gut zu versorgen. All diese Menschen werden auf weiter entfernte Zentren mit höherer Ausstattung verwiesen werden. Für die Frage, ob die Rettungsdienste solche weiter entfernt liegenden Zentren dann werden erreichen können, fühlt sich niemand zuständig. Die von Bund und Land verteilten Mittel bekämpfen also allenfalls auf Zeit Symptome. Gleichzeitig schreitet der Abbau von Versorgungskapazität auf dem Land mit großen Schritten voran.

Wir GRÜNE sind der Auffassung, dass wir die Art und Weise der Finanzierung und der Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen grundlegend reformieren müssen. Dass die Politik ihre Verantwortung für ein verlässliches Grundangebot für alle Versicherten in Bayern, egal wo sie leben, endlich wahrnehmen muss, anstatt Placebos zu verteilen.

Für eine verlässliche Gesundheitsversorgung vor Ort braucht Bayern eine brauchbare planerische Grundlage – eine Krankenhausplanung, die Erreichbarkeit, Qualität und Effizienz etwa durch verbindliche Vorgaben für die Ausstattung und die Öffnungszeiten von Notfallambulanzen räumlich definiert und durchsetzt und die regionale Versorgung nicht dem Zufall der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des jeweiligen Krankenhausträgers überlässt. Die Frage, wie Patient*innen zu ihrer Versorgung kommen, darf nicht länger ihr Privatproblem bleiben – gerade in Bayern, wo das Nahverkehrsangebot gerade in der Fläche bundesweit besonders schlecht ist.

Für eine verlässliche Gesundheitsversorgung vor Ort muss die Leistungsfinanzierung umgestellt werden. Planerisch definierte Vorhalteleistungen müssen ausreichend aus dem Budget der Krankenkassen finanziert werden. Es kann nicht sein, dass bundesweit kaum eine Kinderklinik kostendeckend arbeiten kann. Es kann nicht sein, dass Krankenhäuser dazu gedrängt werden, unnötige, aber gut finanzierte Operationen durchzuführen, um aus den Erträgen die Geburtsklinik oder die Öffnungszeiten der Notaufnahme finanzieren zu können. Und es kann nicht sein, dass die wohnortnahe Versorgung davon abhängt, wie das Steueraufkommen vor Ort ist, obwohl die Versicherten überall dieselben Beitragspflichten haben. Gerade in strukturschwachen Regionen ist das örtliche Steueraufkommen oft so niedrig, dass Kommunen besonders große Schwierigkeiten haben, die Defizite aus der Aufrechterhaltung der schlecht vergüteten Grund- und Akutversorgung zu tragen. Gerade dort, wo niedergelassene Ärzt*innen fehlen, fällt es den Kommunen oft besonders schwer, mit eigenen Investitionen in Ärztehäuser diese Lücke zu füllen.

Um den ländlichen Raum nicht in den absehbaren Ärtz*innen-Mangel laufen zu lassen, müssen jetzt durch den Bund realistische Bedarfszahlen festgesetzt werden, die das Alter der noch praktizierenden Ärzt*innen bei der Zulassung neuer Arztsitze und die tatsächlichen Bedarfe durch eine vor allem auf dem Land älter werdende Bevölkerung und den gestiegenen Untersuchungs-, Impf- und Behandlungsbedarf von Kindern berücksichtigen.

Schließlich wollen wir die organisierte Unverantwortlichkeit im Gesundheitssystem beenden, indem wir die Entscheidungen über die Grundversorgung in einer Region wieder zu den Menschen und zu den von ihnen gewählten kommunalen Vertreter*innen bringen. Wir wollen die Landkreise aus der Rolle der faktisch hilflosen Träger der Gewährleistungsverantwortung für die stationäre Versorgung befreien: Heute sind die Landkreise entweder dazu verdammt, die durch Entscheidungen auf Bundesebene entstehenden Defizite auszugleichen, um die Grund- und Akutversorgung in ihrem Landkreis zu retten, oder – wo die Krankenhäuser privatisiert sind – haben sie überhaupt keine Handlungsmöglichkeiten mehr. Wir wollen Gesundheitsregionen schaffen, in denen Selbstverwaltung, Krankenkassen und zuständige Kommunen an einem Tisch sitzen und gemeinsam die Grundversorgung gestalten und dafür auch Mittel von den Kassen erhalten. Vor Ort, nah bei den Menschen können demokratisch legitimierte Vertreter*innen der Bevölkerung die Verantwortung für die Gestaltung der Grundversorgung innerhalb des bundes- und landesplanerisch vorgegebenen Rahmens am besten wahrnehmen. Vor Ort ist klar, wo die Nahverkehrsverbindungen ausreichend sind und wo die Mobilität der Patient*innen zur Ärzt*in auf andere Weise sichergestellt werden muss. Vor Ort ist auch die nötige Verzahnung mit den Rettungsdiensten und anderen Mobilitätsangeboten möglich, für die Bund und Land derzeit keine Verantwortung übernehmen.

  1. Die Versorgung wollen wir aus der Sicht der Patient*innen planen: Dazu wollen wir bundesgesetzlich festschreiben, welche Maximalentfernungen vom Wohnort für die Grund- und Akutversorgung in der Regel und im ganzen Land einzuhalten sind. Jede*r Versicherte muss sich darauf verlassen können, dass eine Schlaganfallversorgung für ihn oder sie rechtzeitig erreichbar ist, egal ob er im Ballungsraum wohnt oder auf dem Land.
  2. Die wohnortnahe Bereitstellung von stationärer Grund- und Akutversorgung ist im System der Fallpauschalen nicht kostendeckend möglich. Gleichzeitig setzt dieses System zu viele Fehlanreize und führt so zu Mittelverschwendung. Es unterstützt die weitere Privatisierung des Gesundheitswesens und benachteiligt öffentliche Träger, die sich der Daseinsvorsorge für die Bevölkerung verpflichtet fühlen. Wir wollen stattdessen eine Finanzierung der Leistungen durch die Krankenkassen, die auch die Vorhaltung der stationären Grund- und Akutversorgung in der Fläche auskömmlich finanziert und Budgetgrenzen überwindet. Die systematische Unterfinanzierung von Notfallambulanzen, Geburtskliniken und Grundversorgungsabteilungen und der Zwang zur Quersubventionierung durch hochtechnisierte, elektive Medizin müssen beendet werden. Wir wollen eine Leistungsfinanzierung, die es wieder erlaubt, das medizinisch Notwendige zu verordnen, und nicht vorwiegend das Abrechenbare. Der ländliche Raum soll dabei eine Vorreiterrolle für eine neue Abrechnungssystematik und eine finanzielle Verknüpfung von ambulanter und stationärer Versorgung übernehmen.
  3. Wir wollen eine verbindliche Krankenhausplanung durch den Freistaat Bayern, die die nach dem bundesgesetzlichen Mindestversorgungsstandard notwendigen Kapazitäten für die Grund- und Akutversorgung in der Fläche definiert. Der Krankenhausplan muss das verbindliche Versorgungsprogramm enthalten, auf das sich die Versicherten überall in Bayern verlassen können.
  4. Wir wollen, dass der Freistaat Bayern die Investitionsbedarfe der im Krankenhausplan vorgesehenen Krankenhäuser vollständig aus Steuermitteln Nach jahrelangen Kürzungen ist der Investitionsstau enorm. Die hierfür vorgesehenen Mittelerhöhungen sind nicht ausreichend. Wenn ein erheblicher Teil der bayerischen Krankenhäuser dauerhaft Defizite schreibt, so liegt dies auch daran, dass die Krankenhäuser gezwungen sind, Eigenmittel zu investieren, die eigentlich für die Versorgung der Patient*innen vorgesehen sind. Investitionsmittel sind heute in Bayern zu gering, und sie werden nicht nach planerischen Kriterien, sondern mit der Gießkanne verteilt.
  5. Die Schließung von Krankenhäusern oder einzelnen Abteilungen darf nicht mehr allein davon abhängig gemacht werden, ob der zuständige Träger weiter finanziell in der Lage und willens ist, das Angebot aufrecht zu erhalten. Wir wollen, dass das Land am Maßstab der verbindlichen Krankenhausplanung vorab prüft, ob das zur Disposition stehende Angebot aus Sicht der Patient*innen verzichtbar oder ersetzbar ist durch ein Angebot an anderer Stelle oder in einer anderen Versorgungsstufe. Dabei ist auch zu prüfen, ob die Kapazitäten in anderen, erreichbaren Krankenhäusern ausreichen, um die von der Schließung betroffene Bevölkerung mitzuversorgen.
  6. Im niedergelassenen Bereich wollen wir, dass der Bund zügig die Bedarfsermittlung für Haus- und Kinderärzt*innen an die Wirklichkeit anpasst. Die reale Bevölkerungszusammensetzung und -entwicklung sowie das tatsächliche Alter der bereits niedergelassenen Ärzt*innen müssen dabei berücksichtigt werden. So wollen wir verhindern, dass Regionen weiterhin für Neuzulassungen gesperrt werden, in denen ein Versorgungsmangel tatsächlich bereits besteht oder absehbar ist.
  7. Wir wollen die unterschiedliche Vergütung von Leistungen für privat und gesetzlich Versicherte durch den Wechsel zu einer Bürgerversicherung für alle beenden. Denn die unterschiedliche Vergütung fördert die Abwanderung des Angebots aus der Fläche.
  8. Wir wollen, dass verlässliche Vorgaben für die Versorgungsstandards und eine ausreichende Finanzierung durch Bund und Land einhergehen mit einer Stärkung der Rolle der Kommunen für die Umsetzung der verlässlichen Versorgung für ihre Bevölkerung vor Ort. Mittelfristig wollen wir die flächendeckende Gründung von echten Gesundheitsregionen, in denen die zuständige kommunale Ebene, die Krankenkassen und die Selbstverwaltung der Ärzt*innen, Apotheker*innen sowie weiterer medizinischer Berufe in enger Verzahnung mit weiteren Akteur*innen wie den Rettungszweckverbänden die regionale Sicherstellung des Mindestversorgungsstandards gemeinsam verabreden. Dazu muss die zuständige kommunale Ebene die erforderliche dauerhafte Ausstattung mit kompetentem Personal erhalten. Aus den Versicherungsbeiträgen müssen insbesondere ländlichen Gesundheitsregionen Mittel zur selbständigen Schließung von Versorgungslücken zur Verfügung gestellt werden. Wenn die Sicherstellungsverantwortung für die ambulante Versorgung von den heute zuständigen Selbstverwaltungen nicht wahrgenommen wird, muss die Zuständigkeit auf die Gesundheitsregionen übergehen.
  9. Qualitätsmessungen auf Bundesebene für Krankenhäuser, die nur die Versorgungsqualität ab der Krankenhausschwelle einbeziehen, ignorieren die Risiken, die für Patient*innen durch immer weitere Wege entstehen. Eine top ausgestattete Abteilung, die oft nur für einen geringen Teil der Fälle erforderlich ist, nützt den Patient*innen nichts, wenn sie diese nicht mehr rechtzeitig erreichen können. Wir fordern, dass die Nachteile aus schlechterer Erreichbarkeit und Aufwand und Belastung aus Transport und Verlegung von Patient*innen mit in die Qualitätsbewertung einbezogen Versorgungsstandards, die nur für einen geringen Anteil der Menschen einer bestimmten Diagnose erforderlich sind, dürfen nicht zur Voraussetzung für die Vergütung sämtlicher Diagnosen für Menschen mit dieser Diagnose definiert werden.

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